Einzelstudie 08:

Beschäftigungspolitik - globale Vorgaben, national ausgeführt
am Beispiel Große Koalition

Kurzfassung
 

Dem Koalitionsvertrag fehlt eine Analyse:

Wir registrieren eine nationale Überschusskapazität von 7,3 Millionen Beschäftigten.
Deshalb misst die Große Koalition (CDU. CSU, SPD - CCS) dem Beschäftigungsproblem höchste Priorität bei.

Empfindlicher Mangel im Koalitionsvertrag, es fehlt die Analyse dieser Fehlentwicklung.
Ohne Ursachenanalyse aber kein konsistentes Politikpaket.

Die Beschäftigungstrends:

Die Statistik enthüllt die Beschäftigungstrends:
Seit 1970 ist die Produktivität auffallend stärker angestiegen als die gesamtwirtschaftliche Produktion. Wegen dieser Überschüsse konnte das Inlandsprodukt mit immer weniger Arbeitsaufwand hergestellt werden. Über 34 Jahre hinweg gingen die Beschäftigungsstunden um gut 0,5 % zurück - Jahr für Jahr.

Dies ist ein Befund von großer Tragweite. Die Trends und diese Last übernimmt die Große Koalition von allen Regierungen der letzten 35 Jahre.

Mit ihrem Koalitionsvertrag erhebt sie den Anspruch, eine Wende durchzusetzen.
Wird ihr dies gelingen?


Vier Strategiestränge im Koalitionsvertrag:

Strategie-1:  Das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion

Für höheren Investitionen sollen Konjunkturimpulse mit einem Programm von 25 Mrd. Euro gegeben werden. Parallel dazu wird aber die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent angehoben werden.

Das ergibt keinen Einstieg in eine Beschäftigungswende: Das Ausgabevolumen ist zu knapp; die MWSt.-Erhöhung verfestigt eher noch die lahmende Binnenkonjunktur.
 
Vor allem: Wir sind mit zunehmender Sättigung konfrontiert.
Die Wachstumsraten sinken seit 50 Jahren. Dies ist ein fundamentaler Ausgangstatbestand, der im Koalitionsvertrag nicht gesehen wird.

Strategie-2:  Produktivität und Innovation beschleunigen

Der Januskopf der Produktivität:
Einerseits ist die Entfaltung von Produktivität Voraussetzung jeder Nachfrage nach anspruchsvoller Arbeit.  Andererseits führen Produktivitätsüberschüsse zu einem Abbau des volkswirtschaftlichen Arbeitsvolumens.


Im Kern besteht also die Kunst der Beschäftigungspolitik darin, diesen Doppeleffekt auszubalancieren.

CCS konzentriert sich jedoch einseitig auf die Erzeugung neuer Produktivität. Bildung und Forschung sollen Innovationen auslösen, die in Produkte und Prozesse (!) umgesetzt werden sollen.

Das Produktivitätswachstum wird also eher noch beschleunigt. Damit droht das Beschäftigungsziel ins Schleudern zu geraten.

Strategie-3: Neue Zeitpolitik
 
Da erstens der abwärts gerichtete Wachstumstrends nicht gedreht und zweitens die Produktivität eher noch beschleunigt wird, da drittens die Politik der Arbeitszeitverkürzung auf lange Zeit keine Option mehr darstellen wird,
bleibt nur eine neue Zeitpolitik. Dann ist Investition von Zeit zwingend notwendig, um die Lücke zwischen Produktions- und Produktivitätswachstum zu schließen.


CCS führt diese strategische Linie ein, ohne sie zunächst explizit so auszuweisen.
CCS will nämlich Lebenslanges Lernen etablieren und die Weiterbildung zur 4. Säule des Bildungssystems machen.

Mit diesem Hebel könnte eine Beschäftigungswende eingeleitet werden.
Lebenslanges Lernen kann ein Gegengewicht zum 35-jährigen Rückgang des Arbeitsvolumens bilden.

Erste Anmerkungen zur Finanzierung dieser Strategie werden auch gemacht.
 
CCS sieht diese Investition als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an, hat diesen Strategiestrang aber noch nicht operationalisiert.

Wenn dieses zentrale Ziel allerdings erst „mittelfristig“ realisiert werden soll, dann kann es keine positive Beschäftigungswirkungen mehr in dieser Legislaturperiode geben.

Strategie-4: Den Arbeitsmarkt managen

Zunächst hat CCS die ideologischen Übertreibungen einer alles entscheidenden Wirksamkeit der Arbeitsmarktpolitik (Hartz) zurück gefahren.

Bürokratie und unproduktiven Verkrustungen soll zu Leibe gerückt werden. Das ist richtig, dabei geht es aber eher um Kosten als um Beschäftigung.

Beschäftigung  lässt sich aber durchaus mit der Einrichtung eines Niedriglohnsektors schaffen. Die in den USA gemachten Erfahrungen belegen dies. Dazu hat wiederum CCS nur einen Prüfauftrag für eine Kombi-Lohn-Modell angekündigt.

Deswegen kann die beschäftigungspolitische Relevanz des arbeitsmarktpolitischen Kapitels derzeit nicht fundiert ausgewiesen werden.

Vier Strategien – eine Bilanz der Beschäftigungseffekte

Die Gesamtbilanz ist daher übersichtlich:

Ob CCS überhaupt die 35 Jahre alten Trends wenden kann, bleibt vorläufig offen. Wenn sie es schaffen sollte, dann bleibt in dieser Legislaturperiode zu wenig Zeit, um einen massiven Abbau der Arbeitslosigkeit zu erzielen.
Die Arbeitslosigkeit wird auf hohem Niveau verharren.
 

CCS im nationalen Politik-Trapez

CCS bewegt sich im nationalen Politik-Trapez. Konzipiert wird national, die internationalen Zusammenhänge verblassen im Obergrund. Die Globalisierung hat aber die Beschäftigungsgrundlagen bereits grundlegend umgewälzt.

E
ine Draufsicht enthüllt die gewaltigen Dimensionen, um die es hier geht. Zwei Änderungen der Beschäftigungsgrundlage sind wichtig.

Erste Änderung: Abpumpen aus den Investitionstöpfen

Der Generalansatz von CCS: „Deutschland braucht einen Dreiklang aus Sanieren, Reformieren und Investieren“; es braucht „eine Wachstumsstrategie mit deutlich höheren Investitionen“.
Die Frage ist nun, ob die Investitionshebel so überhaupt noch funktionieren.

Welche neuen Realitäten schaffen Advanced Financial Capital und Global Governance?

In den USA werden die Konzerne zu Rekordbeträgen für Dividenden und Aktienrückkäufe gezwungen. Dieses Potential fehlt den Unternehmen für Innovation und Investition.
Deutschland folgt diesem Muster.
Eine wachsende Zahl von Fällen belegt das: Superreturn statt Investitionen.

Zweite Änderung: Die Flutung der Arbeitsmärkte
 
Der deutsche Arbeitsmarkt steht seit 35 Jahren unter Druck.
Schon heute sehen wir uns mit einer Überkapazität von 7,3 Millionen Arbeitskräften konfrontiert . Globalisiert man das Konzept der „Stillen Reserve“, so stehen Millionen und Abermillionen von Zuwanderern in aller Welt bereit, ihre Arbeitskraft auf dem deutschen Markt anzubieten. Dazu bedarf es lediglich der Beseitigung der nationalen Barrieren.

Und dies ist die Hauptstoßrichtung von Global Governance: Um seine Generalziele durchzusetzen, verfolgt es drei Zwischenziele:
Zunächst die Schaffung eines großen weltweiten Warenmarktes;
parallel dazu die Schaffung eines freien Kapitalmarktes;
nachfolgend dann die Öffnung für den freien Fluss der Arbeit.

Daraus erwachsen drei Folgen für die Beschäftigung:
Erstens die Ausdehnung der globalen Beschäftigungslücke auf den deutschen Arbeitsmarkt.
Zweitens die Verlängerung der Arbeitszeit zur weiteren Flutung.
Drittens die Blockierung des Bildungssystems durch die zuwandernden Qualifikationsprofile.
Die Einwanderung erweist sich nicht als Ent-, sondern als Belastungsfaktor.

Wie reagiert die Koalition?

Koalition hat keine Antwort auf das Abpumpen der Investitionsmittel

CCS konzentriert zunächst seine Maßnahmen auf die Unterstützung und Förderung der Unternehmen: Günstigere Abschreibungsbedingungen, Mittelstandsförderung.

Diese
Ansätze passen zwar in das nationale Trapez, aber noch in das globale Dreieck?

Die alten Ketten werden immer wieder aufs Neue getestet.
 
Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen, und diese sind die Arbeitsplätze von übermorgen

Diese Kette zeigt aber immer mehr das folgende Muster:

Die Gewinne von heute sind die Absaugungen durch Investment Banking von morgen, und diese sind die Verluste der Arbeitsplätze von übermorgen

Es ist ein einmaliges Vorgehen: Obwohl sich das propagierte Ergebnis einfach nicht einstellt, wird die Anordnung der Versuchsreihen der letzten 30 Jahre unverändert beibehalten und der Versuch Jahr für Jahr wiederholt. Schon das legt offen, dass das Generalziel ein ganz anderes sein muss.

Koalition reagiert bloß auf globale Beschäftigungsvorgaben

Auch auf dem Felde der Einwanderung wird lediglich reagiert. 

Zum Beispiel Arbeitszeitverlängerung. Sie bewirkt die zusätzliche Ausweitung des Arbeitsstundenangebots, für das schon heute keine Nachfrage vorhanden ist.

Zum Beispiel Schaffung eines Niedriglohnsektors. Eine Arbeitsgruppe soll dies prüfen. Das Ergebnis ist vorhersehbar. Wenn man die Arbeitsmärkte gezielt mit  massenhafter Niedrigqualifikation flutet, dann müssen die Arbeitsbedingungen in diesem Sektor abgebaut werden, um das vergrößerte Arbeitsangebot überhaupt unterbringen zu können..

Zum Beispiel Bildungspolitik, ein Strukturfeld, auf dem Global Governance negative Abstrahleffekte vorprogrammiert. CCS schreibt: „Bildung ist der Schlüssel für Entwicklung und Innovation. Unser Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft hängen immer stärker davon ab, welchen Stellenwert Bildung erhält“.

Vor 30 Jahren war das ein rundum richtiger Kernsatz. Heute klammert dies die Veränderungen aus, die von einer global gewollten Masseneinwanderung von Niedrigqualifikation auf die Blockierung des Bildungssystems ausgehen.

CCS verharrt in alten Globalisierungsmustern

Mit dem nationalen Blickwinkel kann man in der Außenwirtschaftspolitik nicht mehr Schritt mit der Zeit halten.

CCS:  „Offene internationale Märkte und freier Handel sind von zentraler Bedeutung.  International tätige Unternehmen sichern und schaffen zukunftssichere Arbeitsplätze auch in Deutschland“.

Diese positive Formel stammt aus einer Zeit, als die Öffnung der Gütermärkte auf der Basis des Ricardo-Theorems voran getrieben wurde. Diese Zeit ist vorbei. Inzwischen ist bei der Öffnung der internationalen Märkte ein Wendepunkt erreicht:

Die Öffnung der Warenmärkte ist weit fortgeschritten. Hier kann man sich jetzt bereits auf abrundende Schritte konzentrieren.

Bei der Liberalisierung der Finanzmärkte ist sogar der optimale Punkt schon überschritten. Der weltweit auffälligste Beleg dafür ist die Zerstörung der operativen Basis der USA. 

Die aus diesen Marktöffnungen erzielten Machtgewinne nutzt Advanced Financial Capital, um auch die letzte Bastion zu nehmen – die Arbeitsmärkte.

Die Folgen haben wir bereits gesehen. Die Gesamtbilanz der Wirkungen der Globalisierung auf die Arbeitsmärkte ist verheerend.

Wohlstandsinseln in der Wüste?

Ein neuer Blickwinkel hat die erreichte Machtkonstellation von Advanced Financial Capital in den Vordergrund zu rücken.

Erstens ist Transparenz gefordert, es bedarf einer umfassenden Globalisierungsanalyse: Was macht das System ‚Global Governance’ aus?

Zweitens ist daraus ein neuer Dreiklang für die Integration der Märkte abzuleiten:

Anstatt die deutsche/europäische Wirtschaftpolitik auf immer neue Globalisierungsrunden nur passiv reagiert, muss CCS agieren.

Die Überschrift für einen neuen globalisierten Dreiklang könnte heißen:
Öffnung der Gütermärkte abrunden;
unterregulierten Finanzmärkten straffe Zügel anlegen;
Segmentierung der Arbeitsmärkte auf Dauer beibehalten. 

Drittens ist das strategische Vorgehen zu klären – welche Ebenen in welcher Reihenfolge? Dies ist eine ausschlaggebende Frage.

Wo liegen die wesentlichen Ansatzpunkte, um operative Leistungsfähigkeit und Arbeitsplätze starker deutscher Unternehmen gegenüber den Finanzplayern zu verteidigen?

Unklarheit herrscht, weil die Analyse fehlt. Wer nationale Beschäftigungspolitik formulieren will, muss Einfluss auf die globalen Vorgaben nehmen können.

Deutschland allein ist heute nicht mehr aktionsfähig. Es gibt kein Zurück zum bloßen Nationalstaat! Dessen Zeit ist ebenfalls abgelaufen.

Zwischen Deutschland und Global Governance liegt die EU. Sie wird jedoch bereits weitgehend von Global Governance gelenkt. Wie lässt sich diese Basis zurückgewinnen? Der Leitsatz kann nur heißen: Europa muss als eigenständiger und handlungsfähiger politischer Block innerhalb von Global Governance positioniert werden. Dieser Block kann nur als Kerneuropa formiert werden. Es ist noch immer Zeit, diese Richtung einzuschlagen.

Ein Europa-Block ist auch Voraussetzung, wieder Beschäftigungspolitik betreiben zu können.

Immer mehr Bürger werden dauerhaft aus dem Erwerbsprozess hinaus gedrängt.

Wenn die Große Koalition nicht die Courage aufbrächte, sich zusammen mit anderen europäischen Partnerländern den Vorgaben von Global Governance entgegen zu stemmen, wie will sie dann diese Erosion verhindern?

Dann wird sich die Wüste ausbreiten.
 

Quelle: MacroAnalyst.de  im Dezember 2005

Nachtrag zu dieser Analyse in 2011:

Das Statistische Bundesamt (Destatis) hat in den letzten Jahren Untersuchungen zur Beschäftigungsentwicklung vorgelegt.

Die beiden Hauptergebnisse:
o   Der Anteil atypisch Beschäftigter hat seit 1998 deutlich zugenommen:
Zeitarbeit, Teil­zeitbeschäftigungen mit 20 oder weniger Stunden Arbeit pro Woche, geringfügige Beschäftigungen sowie befristete Beschäftigungen
haben  Normalarbeitsverhältnisse weiter verdrängt.
o   Für alle Kategorien atypisch Beschäftigter war das Niedriglohnrisiko deutlich höher
als für Personen in einem Normalarbeitsverhältnis; sie waren deutlich häufiger armutsgefährdet.