Einzelstudie 09:

Dokuritsu/Tokyo:

Der Angriff auf die Euro-Zone als Experiment:
Kann man souveränen Staaten ihre fiskalische Autonomie nehmen?

Wirtschaftswissenschaft und Machtpolitik
Robert Mundell (*1932)
 

Wissenschaftler haben für gewöhnlich eine neutrale Perspektive und können zum Wohle der Allgemeinheit Forschungsarbeit leisten. Besonders Wirtschaftswissenschaftler genießen in der heutigen, modernen Gesellschaft ein hohes Ansehen. Deren Forschungsarbeiten sind komplex und oftmals werden letztlich sehr „konkrete“ Empfehlungen mit - für die Allgemeinheit  schwer verständlichen - Modellen hinterlegt, so dass politischer Widerstand gegen solche konkreten Empfehlungen, die oftmals in staatliche Entscheidungen umgesetzt werden, nur selten erfolgreich sein kann.
 

Verfolgt man aber die Geschichte zurück, kann man feststellen, dass wissenschaftliche Theorien oftmals herangezogen wurden, um Zustimmung (oder mindestens keinen Widerstand) in der breiten Bevölkerung für bestimmte politische Ziele zu erreichen. Fraglich ist also, ob ein solcher Zustand der Vereinnahmung der Wissenschaft durch die Politik nicht bis heute anhält. Im Folgenden kann diese Frage auch in Bezug auf die von Robert Mundell (Wirtschaftsnobelpreisträger, Wirtschaftsprofessor an der Universität Columbia) entwickelten Theorien gestellt werden, die für die Deutung der gegenwärtigen Ereignisse in der Euro-Zone von großer Bedeutung sind.

Robert Mundell machte sich insbesondere einen Namen mit dem Mundell-Fleming Modell sowie mit der Theorie optimaler Währungsräume („optimum currency areas“) Anfang der 60er Jahre, wofür er 1999 (!) einen Nobelpreis erhielt. Mundell gilt weiterhin als einer der Gründungsväter der „Supply Side Economics“, einer makroökonomischen Richtung bzw. Denkschule, die sich in den USA allerdings erst mit Ronald Reagan (Mundell arbeitete als wirtschaftspolitischer Berater von Präsident Reagan) politisch durchsetzen konnte. Im Mittelpunkt dieser Denkschule steht die Erhöhung der Wirtschaftsproduktion, d.h. die Angebotsseite der Wirtschaft (im Unterschied zu z. B. der keynesianischen Schule, die besonderen Fokus auf die Nachfrageseite legt). Die Erhöhung des Güter- und Dienstleistungsangebots („supply“) soll durch (konkrete!) wirtschaftspolitische Maßnahmen wie beispielsweise Steuerreduzierungen und umfassende Deregulierung erreicht werden. Dabei findet eine gezielte Ressourcenverlagerung von Konsum und staatlichen Investitionen in private Investitionen statt.  Die De-regulierungswelle und die „tax cuts“ der Reagan- und Bush-Regierung waren unmittelbare Folgen dieser Politik.  Anfänglich versprachen (sich) die Befürworter dieser Politik (insbesondere auch Mundell) eine Erhöhung der Steuereinnahmen aufgrund des erhöhten Wirtschaftswachstums („Laffer-Kurve“). Allerdings konnte sich diese Prophezeiung nicht bewahrheiten –

im Gegenteil nahm die Verschuldung der öffentlichen Hand in den USA kontinuierlich zu und nimmt heute ein – unbestritten - gewaltiges Ausmaß an. Mundell macht hierfür aber in erster Linie das (ebenfalls gestiegene) Ausgabenprogramm des Staates verantwortlich – Tatsache aber ist, dass im Sinne einer verantwortungsvollen Haushaltspolitik, die gestiegenen Ausgaben nicht durch erhöhte Steuereinnahmen gegenfinanziert wurden und im Gegenteil die Einnahmenseite gezielt vernachlässigt wurde. Mundell und die Vertreter der Supply-Side Economics bieten (mit Ausnahme der Empfehlung einer Reduzierung der Staatsausgaben) in Bezug auf das „Schuldenproblem“ keinen Lösungsansatz an. Interessanterweise standen im Fokus der propagierten „tax cuts“ insbesondere der Spitzensteuersatz sowie die Kapitalertragssteuer („capital gain tax“).

Darüber hinaus wurde die Progression in der Besteuerungsstruktur, die eine gleichmäßigere Verteilung des Wohlstandes zum Ziel hat, wesentlich verringert.  Es ist somit kaum verwunderlich, dass eine solche (fast 20 Jahre anhaltende) Wirtschaftspolitik zu einer Vermögenskonzentration in den USA beigetragen und weite Teile der amerikanischen Gesellschaft wirtschaftlich entmachtet hat. 

Ein weiteres Problem dieser angebotsseitigen Wirtschaftspolitik ist das Auftreten von „Asset Inflation“ (dt.: Inflationierung von Vermögenswerten). Da Ressourcen in private Investitions- und Investmentsektoren umgelenkt werden, nimmt die dort erzielbare Rendite kontinuierlich ab. Anstatt eines zusätzlichen Angebots von Wirtschaftsgütern verteuern sich lediglich die Vermögenspreise (Bildung von „asset bubbles“).

Die (auf den ersten Blick nicht unbedingt unmittelbar erkennbare) enge Verzahnung von „Public Finance“ (Lehre der Makroökonomie, die sich auf den Staatssektor konzentriert) und „International Finance“ (Lehre des internationalen Finanzsystems) wird in der Person von R. Mundell besonders deutlich. Die Auseinandersetzungen in der Euro-Zone können als Lehrbeispiel dafür angesehen werden.

Neben der oben in ihren Grundzügen dargestellten Lehre der „supply side economics“ beschäftigte sich Mundell mit Währungsregimen (feste oder flexible Wechselkurse) und deren Zusammenhang mit der Geld- und Fiskalpolitik. Das Mundell-Fleming Modell ist eine Erweiterung des von Keynes entwickelten IS/LM Modells und zeigt, dass im Falle eines flexiblen Wechselkursregimes der Einsatz von geldpolitischen Instrumenten (im Unterschied zu einem festen Wechselkursregime) realwirtschaftliche Wirkung entfalten kann. Beispielsweise wird damit gerechnet, dass die Erhöhung der Geldmenge eine Währungsabwertung zur Folge haben wird und daraufhin die Wirtschaft aufgrund erhöhter Exporte stärker wachsen kann. Weiterhin zeigt Mundell mit dem sog. „Mundel-Trilemma“, dass es unmöglich ist, feste Wechselkurse, einen freien Kapitalverkehr sowie eine (vom Ausland) autonome Geld- und Fiskalpolitik gleichzeitig verfolgen zu wollen.  Ohne flexible Wechselkurse (wie im Falle Bretton Woods oder im Euro-Währungsraum) muss eines der beiden anderen Ziele (freier Kapitalverkehr oder autonome Geld- oder Fiskalpolitik) aufgegeben werden.

Nach dem Fall von Bretton Woods, bei dem der Kapitalverkehr wesentlich eingeschränkt war, blieb lediglich das Europäische Währungssystem (EWS) mit flexiblen Wechselkursen bestehen- dieses System mündete später in den Euro-Währungsraum.

Der Euro-Währungsraum ist ein Fallbeispiel für Mundells OCA-Theorie (optimum currency area) in Echtzeit. Interessanterweise kann Mundell auf beiden Seiten, d.h. bei den Euro-Befürwortern als auch bei den Euro-Gegnern gefunden werden. Beschäftigt man sich mit der OCA-Theorie und vergleicht deren (partielle) Umsetzung in die europäischen Verträge, wird sehr schnell klar, warum Mundell nicht ausschließlich einer Seite zuzuordnen ist. Grundsätzlich sieht Mundell Vorteile in einem flexiblen Wechselkurssystem, da asymmetrische Schocks durch Angleichen der Währungen -gewissermaßen automatisch- aufgefangen werden können. Allerdings ist diese Absorptionsfähigkeit umso größer, je größer der Wirtschaftsraum ist. Dies bedeutet, dass kleinere Volkswirtschaften anfälliger für externe Schocks sind, als größere Volkswirtschaften. In diesem Zusammenhang sieht Mundell Vorteile für einen gemeinsamen Währungs- und Wirtschaftsraum.  Mundell macht den Erfolg einer solchen Währungsgemeinschaft abhängig von den sogenannten „Grundfreiheiten“, die auch in den europäischen Verträgen umgesetzt wurden (freie Mobilität von Arbeit / Kapital / Dienstleistungen / Güter). In diesem Sinne ist Mundell „Anhänger“ des Euro-Währungsgebietes.

Ein von Mundell als elementar angesehenen Faktor aber wurde im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht berücksichtigt: das sog. „Bail-out“-Prinzip. Gemäß ursprünglich vor allem deutscher Vorstellungen wurde in den europäischen Verträgen das Herauspauken schlechter Schuldner (bail out) ausdrücklich ausgeschlossen. Dieser Umstand wurde von Euro-Kritikern stark bemängelt. Die nämlich wollten stattdessen ein „risk sharing system“, also einen „Transfermechanismus“, durch den Steuergelder an weniger entwickelte Länder (bei Bedarf) automatisch umgeleitet werden.

Die Euro-Krise in 2010 hat nun die ganze Problematik dieses Bail-Out-Prinzips in den Vordergrund der Diskussion gehoben. Mundells Kriterien zufolge ist der Euro-Währungsraum gerade wegen des Fehlens eines Bail Outs „suboptimal“. Erst wenn dieser Transfermechanismus vollständig etabliert ist, wird die Glaubwürdigkeit in den Euro-Raum hergestellt - praktisch ist dies ja schon geschehen.  

Mit anderen Worten geht es hier um die Frage nach der Bedienung von Schulden. Je größer der Pool an Staaten bzw. (erwerbstätigen) Menschen ist, desto „glaubwürdiger“ der Schuldner (in einer Art gesamtschuldnerische Haftung) und desto geringer das Risiko für den Gläubiger. Die südeuropäischen Länder waren historisch immer anfälliger für Verschuldung und Inflation – eine unmittelbare Gefahr für die Gläubiger bzw. Eigentümer der Anleihen. Durch die Etablierung der EZB (die ein klares Inflationsziel hat) wurde diesen Ländern die Möglichkeit der Inflationierung der Schulden genommen. 

Da Deutschland historisch zwar eine Abneigung gegen „Schulden machen“ hat, gleichzeitig aber im europäischen Währungsraum integriert ist, kann es auf diesem Umweg zu einem (realen) „Schuldenausgleich“ herangezogen werden.

 

FAZIT:

Mundell setzt sich in seinen Ausführungen zum optimalen Währungsraum auffällig wenig mit diesem Phänomen der Schuldenfinanzierung auseinander.  Daraus kann geschlossen werden, dass es ihm im Kern um den Transfer von Vermögen geht. In den USA ist eine solche massive Vermögensverlagerung ja seit längerem zu registrieren.

Der Blick auf die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in Europa aus der asiatischen Perspektive legt deshalb die Folgerung nahe, dass dies für Europa jetzt nachgeholt werden soll. In Asien ist die Frage nach einer gemeinsamen Währungszone schon im Zuge der Asienkrise 1997 kontrovers diskutiert worden.

Europa ist inzwischen weiter. Bei der anstehenden Fortschreibung des Euro-Rettungsmechanismus geht es nun um das Experiment, ob es möglich ist, souveränen Staaten ihre (fiskalische) Autonomie zu nehmen. So lassen sich die gegenwärtigen Vorgänge deuten - und zwar ganz im Einklang mit Mundell's Theorie.

Würde man dies als Zwischenschritt zum Hauptprojekt des Nobelpreisträgers werten, eine Weltwährung zu schaffen, würde das zu atemberaubenden Perspektiven führen. Diesen Zusammenhang aber gilt es erst noch im Einzelnen zu belegen.

 

Tokyo, März  2011