Kettenglied 5:
Über die Jahrzehnte gerechnet, liegt Europa im
Produktivitätsrennen vor den USA.
I. Was ist Produktivität? Zwei Fragen wollen wir vorab klären.
1. Worum geht es bei der Produktivität? Produktivität ist ein Maß für Effizienz im Produktionsprozess. Definiert wird sie so: Produktivität = Output : Input Output ist die hergestellte Menge, Input ist die Menge an eingesetzten Produktionsfaktoren. (a)
Wenn es um differenzierte analytische Fragen geht, welche Faktoren
zum Inlandsprodukt beigetragen haben, müssen alle Faktoren, die die
Ausbringung beeinflussen, einbezogen werden. Man spricht von "Total Factor
Productivity" (TFP). Die beiden wichtigsten Einzelfaktoren sind Arbeit und
Kapital. Diesem Ansatz zufolge kann man dann z. B. Kapital- von Arbeitsproduktivität unterscheiden. TFP ist daher ein anspruchvolles statistisches Konzept. Berechnungen stehen vorerst nur für wenige Länder zur Verfügung. (b) Wenn es aber um wirtschaftspolitische Fragen geht, benutzen wir üblicherweise nur den Begriff der Arbeitsproduktivität. Dann wird also gemessen, mit wieviel Arbeitseinsatz das Bruttoinlandsprodukt erzeugt wurde. Natürlich ist sich jedermann dabei bewusst, dass die Beschäftigten Kapitalgüter zur Hilfe genommen haben (Fabriken, Fließbänder, Werkzeugmaschinen, Computer), um das Sozialprodukt zu produzieren. Die hergestellt Gesamtproduktion (BIP) wird jedoch nur auf den Arbeitseinsatz bezogen. Das Sozialprodukt wird als Ergebnis menschlicher Arbeit begriffen (inklusive der Herstellung der Kapitalgüter selbst). O'Mahony und van Bark in einer neuen
Produktivitätsstudie für die EU Kommission (c) Weil Produktivität lediglich ein Maßstab zur Messung von Effizienz ist, macht es auch wenig Sinn, z. B. das "Sozialprodukt pro Kopf" dafür heranzuziehen. Kleinkinder und Rentner tragen nun einmal nicht zur Produktion bei. Diese Kennziffer kann durchaus herangezogen werden, ganz anderen Fragestellungen nachzugehen. Z. B. der Frage nach der Produktion gesellschaftlichen Wohlstands und seiner Verteilung, oder auch der Frage nach einer Veränderung der Erwerbsbeteiligung in Zusammenhang mit dem Problem der Einwanderung usw. Dies hat dann auch einen Produktivitätseffekt in der Zukunft. Aber den Status quo der volkswirtschaftlichen Effizienz zu messen, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Produktivität ist ein klar abgegrenztes Konzept. Es ist der Kern des Wohlstandes, nicht mehr und nicht weniger.
2. Wie messen wir den Input von Arbeit? Im oben genannten Bruch steht also im Nenner eine Quantität von Arbeit, deren Qualität allerdings von ausschlaggebender Bedeutung für die Ausbringung ist. Diese Menge wird
üblicherweise auf zweierlei Art gemessen: Natürlich ist die zweite Abgrenzung die präzisere. Es ist ein relativ bescheidenes Produktivitätsmaß, wenn man nur die Zahl der eingesetzten Arbeiter berücksichtigt. Es macht eben einen erheblichen Effizienzunterschied aus, ob eine bestimmte Produktion von 100 Arbeitern in 40 Stunden erzeugt worden ist, oder ob dieselben 100 Arbeiter diese Produktion in nur 35 Stunden hergestellt haben. Normalerweise werden wir auf die Beschäftigtenproduktivität also nur dann zurückgreifen, wenn die Statistik keine Angaben zur Arbeitszeit bereitstellt. Leider gehört die Messung der Produktivität traditionellerweise zu den schwierigeren Problemen der Statistik. Auch der MacroAnalyst musste in der Vergangenheit hin und wieder aus Mangel an geeigneten Daten auf die ungenauere Kennziffer "Produktivität je Beschäftigten" zurückgreifen. "However, this focus is to a certain extent misleading" (EZB). Wie irreführend der einfachere Maßstab der Beschäftigtenproduktivität ist, wird gerade bei den Produktivitätsvergleichen zwischen Europa und den USA deutlich. Hier spielt die Einbeziehung der Arbeitszeit eine ausschlaggebende Rolle. Dies wird mit einem Blick auf die geleistete Arbeitszeit deutlich:
>Grafik 5-1: Arbeitszeit ausgewählter europäischer Länder
Man sollte daher bei allen Produktivitätsangaben zu den USA zuerst immer den verwendeten Maßstab prüfen, hier wird viel Missbrauch betrieben.
Zum Wachstum der Produktivität tragen eine ganze Reihe
unterschiedlicher Faktoren bei, z. B. Qualität und Organisation der
Arbeit, Infrastruktur eines Landes, Innovationskultur, technologischer
Fortschritt. Sie zeigen sich aber auch im Falle von Erweiterungs- und Ersatzinvestitionen. Der überwiegende Teil dieser Investitionen schlägt sich ebenfalls in Produktivitätssteigerungen nieder: Expansion der Produktionskapazitäten, Modernisierung der Produktionstechnologien, Bau neuer Fabrikgebäude sind auf eine höhere Ausbringung pro Arbeitsstunde gerichtet. Diese Investitionen führen in aller Regel zu verbesserten qualitativen und technologischen Niveaus. Der Fall, dass eine Investition abgeschriebene Prozesse lediglich reproduziert, gehört zu den Ausnahmen. Höhere Kapitalintensität und eine bessere Qualität der eingesetzten Kapitalgüter führen zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität. Die langfristige, nämlich seit über vier Jahrzehnten höhere Investitionsquote in Europa lässt damit eine höheres Wachstum der Produktivität erwarten.
III. Wachstum der Produktivität: In Europa höher Und genau dies belegen die langen Zeitreihen.
MacroAnalyst hat bereits auf früheren Ausgaben dieser Web-Seite empirische
Studien zitiert, die höhere
Produktivitätsfortschritte für Europa belegt haben. Zuletzt war dies die
Untersuchung der Europäischen Zentralbank aus 2002. Inzwischen hat nun die EU Kommission eine differenzierte
Produktivitätsuntersuchung durchführen lassen, die ein ähnliches Bild zu
Tage fördert wie die EZB in 2002; diese Untersuchung ist jedoch sehr viel
tiefer unterfüttert. MacroAnalyst stellt hier diejenigen Ergebnisse vor, die in den Kontext unserer makroökonomischen Kette gehören. Die gesamtwirtschaftliche Produktivität hat sich demnach folgendermaßen entwickelt:
Die Suche nach einer markanten Strukturentwicklung legt nahe, den Gesamtzeitraum nicht in runde Kalenderabschnitte, sondern in nur zwei Phasen mit einheitlichen Trends aufzuteilen.
Diese Neugliederung der Zeitachsen bringt dann drei klare Ergebnisse: Erstens, und dies ist das Hauptergebnis, wuchs die Produktivität über den gesamten Zeitraum von 1979 bis 2001 in Europa mit + 59,3 % signifikant schneller als in den USA mit lediglich + 38,2 %. >Grafik 5-2: EU höheres Produktivitätswachstum Zweitens ist das insgesamt höhere Wachstumstempo der EU-Produktivität vor allem in der Phase von 1979 bis 1995 erzielt worden. Die jährliche Wachstumsrate lag in diesen 16 Jahren rund doppelt so hoch wie in den USA (2,3 versus 1,2 %). Drittens zeigt Tabelle 5-2 eine auffällige Änderung der langfristigen Entwicklung, das ist das US-Produktivitätswachstum seit 1996. In der Endphase der 'Roaring Nineties' entwickelte sich erstmals seit langem mit 2,2 % p.a. ein schnelleres Produktivitätstempo als in Europa mit 1,7 % p.a. Die Bedeutung dieser neuen Entwicklung werden wir weiter unten diskutieren.
IV. Niveau der Produktivität: Europa holt auf Ein Wachstum der Produktivität führt zu einem Anstieg des Produktivitätsniveaus. Europa erntet die Früchte des stärkeren Produktivitätstempos. Dies zeigt die Studie für die Europäische Kommission ebenfalls. Wegen des schnelleren Produktivitätsanstiegs in Europa seit 1979 ist der seit dem II. Weltkrieg vorhandene US-Vorsprung beim Produktivitätsniveau immer kleiner geworden. Machte das europäische Produktivitätsniveau in 1980 nur 84,9 % des amerikanischen aus, so lag es in 2002 schon bei 92,1 %.
Dass der europäische Mittelwert auch zuletzt noch unterhalb des amerikanischen liegt, darf über den folgenden Fakt nicht hinweg täuschen: Eine Reihe namhafter europäischer Länder liegt durchaus über dem amerikanischen Niveau. >Grafik 5-3: Eine Reihe von EU-Ländern beim Produktivitätsniveau vor den USA Eine ganze Reihe namhafter
europäischer Staaten weist ein höheres Niveau als die USA auf. Dazu gehört
sogar wieder Deutschland. Es ist insbesondere die Grafik 5-3, die den Blick für eine doch erstaunliche europäische Entwicklung schärft. Die EU ist ja nach wie vor kein einheitliches Land wie die USA. Es ist ein zusammenwachsender Raum von Ländern, bei denen einige noch vor 25 Jahren recht unterentwickelt waren. Und trotzdem kann sich der Durchschnitt, gerade im Vergleich zu den USA, sehen lassen.
V. Ein Strukturbruch in der Produktivitätsentwicklung? Dass die USA in der zweiten Hälfte der 90er Jahre ein höheres Produktivitätswachstum entfalteten als Europa, wird von O'Mahony und van Bark insofern als bemerkenswert eingestuft als dies zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg der Fall gewesen sei. Es stelle sich die Frage, ob hierin ein "structural break" zu sehen sei. Für eine definitive Antwort sei es
noch zu früh. Bis jetzt gebe es aber wenig Belege für diese US-These: MacroAnalyst fügt dem einen weiteren Gesichtspunkt hinzu: Amerikaner verfügen generell über eine hohe Kunst der Selbstdarstellung. In Bezug auf die Produktivitätsentwicklung hat sich dies darin gezeigt, dass schon 1997 (!) eine "Produktivitätsrevolution" ausgerufen wurde, um an eine Etikettierung durch Alan Greenspan zu erinnern. Obwohl global gesehen diese These wegen der ICT-Entwicklung ihre Berechtigung hat, hat sich im US-EU-Vergleich davon noch wenig gezeigt. Ein Überschuss von einem halben Prozentpunkt ab 1996 springt zwar ins Auge, gibt aber für US-Überschätzungen keinen Anlass. Skeptisch vor allem stimmt die Tatsache, dass die Produktivitätsentwicklung nicht in die Makrokette passt. Eine Produktivitäts'revolution' müsste sich in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der USA niederschlagen. Wie ab Kettenglied 6 gezeigt wird, ist dies nicht der Fall. Die Europäische Kommission wäre gut beraten, ihre Frage "Can Europe resume the catching-up process?" mit Augenmaß zu beantworten. MacroAnalyst plädiert in keiner Weise dafür, die Hände in den Schoß zu legen. Es gibt aber auch keinen Anlass, sich von einer angeblichen Superperformance der Amerikaner ins Bockshorn jagen zu lassen. Es stellt sich überhaupt die Frage, ob die USA der wichtigste Vergleichsraum für die Produktivitätsfrage ist. Für die aufgeworfene Fragestellung der Kommission war doch eher der traditionelle Blick über den Atlantik ausschlaggebend. Dass dieser für die Suche nach ökonomisch anregenden Mustern nicht mehr im Vordergrund stehen kann, wird in den nächsten Kettengliedern auf dieser Seite offensichtlich.
Zusammenfassend ist aus den präsentierten Daten festzuhalten, dass über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg gerechnet eine Produktivitätslücke der USA gegenüber Europa festzustellen ist. Dies nun hat Konsequenzen:
VI. Die Konsequenzen der US-Produktivitätslücke für den Arbeitsmarkt Ohne jeden Zweifel zeigt der amerikanische Arbeitsmarkt
wesentlich bessere Daten als der europäische. Die Arbeitslosenziffern
lagen in den Boomjahren der 90er in Europa fast doppelt so hoch wie in den
USA. Zwar hat sich diese Lücke in 2001 und 2002 etwas geschlossen, sie ist
aber deutlich.
>Grafik 5-4: Niedrigere Arbeitslosigkeit in den USA
Das in den Vereinigten Staaten dominierende
Erklärungsmuster identifiziert die hohe europäische Arbeitslosigkeit mit
niedrigen Wachstumsraten, ineffizienten Wirtschaftsstrukturen und
mangelnder internationaler Wettbewerbsfähigkeit: Die auf dieser Web-Seite präsentierte Makrokette legt
generell offen, dass diese Etikettierung falsch ist. Dieser Kette zufolge
müssen wir eher von einer europäischen Führung hinsichtlich der Effizienz
und der Wettbewerbsfähigkeit
der Wirtschaft ausgehen: Speziell tritt hinzu, dass die das Arbeitsvolumen bestimmenden Hauptfaktoren ein anderes Bild ergeben. Europa hat ein empfindliches Arbeitsmarktproblem, keine Frage. Dieses Phänomen ist jedoch von der ökonomischen Basis her zu analysieren, um es richtig zu verorten. Dies erfordert eine Strukturanalyse. Kurzfristig angelegte Häppchen aus der hype machine verbessern jedenfalls nicht den Durchblick. Sie verfolgen wohl eher das Ziel, einen konkurrierenden Wirtschaftsraum zu unterminieren. Um so befremdlicher ist, dass europäische Medien und Politik diese Nebelkerzen aufgreifen und verbreiten. Unsere Langfristanalyse belegt, dass eine prinzipielle Gleichsetzung von Arbeitsmarktproblemen mit der Wachstumsperformance einer Wirtschaft in die Irre führt. Diese Einschätzung basiert auf Erfahrungen, wie sie in der großen Depression der dreißiger Jahre gemacht worden sind. In dieser Phase kam es zu einer parallelen Abwärtsspirale von Wirtschaft und Arbeitsmarkt. (In den 90er Jahren war in Deutschland schon das Gegenteil zu registrieren. In unserem Research Paper für den US Congress hatten wir dies am Zeitraum 1991 bis 1998 dargestellt. Originaltext vgl. www.google.de , Stichwörter: ustdrc; dann: Research Papers ). Die neue Produktivitätsstudie für die EU-Kommission gibt nun auch Belege für Europa her.
>Grafik 5-5: EU-Wirtschaft wächst ohne Beschäftigungszunahme
Die strukturelle Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte belegt, auf welch tönernen Füßen die These einer EuroSlerose steht. Europas gesamtwirtschaftliche Produktion ist in diesem Zeitraum jedes Jahr im Durchschnitt um 2,3 Prozent gewachsen, nicht gerade wenig. Über 20 Jahre hinweg addiert sich das immerhin zu einer Gesamtexpansion des Bruttoinlandsprodukts von 64 Prozent. Die Produktivität wuchs aber fast genauso schnell. Die
Folge war eine Stagnation bei den insgesamt einzubringenden Arbeitsstunden
(lediglich + 0,1 % p.a.). In den USA sehen wir das genaue Gegenstück. Weil die Produktivität dort auffällig hinter dem Wachstum zurück blieb, nämlich um starke 1,5 % p.a., nur deshalb mußten 1,5 % Beschäftigungsstunden pro Jahr zusätzlich gefahren werden, um diese Mehrproduktion bewältigen zu können. Mit diesem Produktivitätsrückstand ist im wesentlichen der 'Erfolg' am US-Arbeitsmarkt zu erklären. Das Wachstum ist extensiv. Dieser Datenset belegt klar, dass es grundfalsch ist,
das existierende Arbeitsmarktproblem in Europa mit einer
Ursachenkonstellation in Verbindung zu bringen, wie sie in der großen
Depression, wenn auch natürlich in ganz anderen Ausmaßen, anzutreffen war.
Für Europa müssen wir heute zweierlei festhalten: Für die USA hingegen gilt dieses so nicht. Alan Greenspan hat zwar 1997 eine "Produktivitätsrevolution" proklamiert, wie man sie seit Beginn des Jahrhunderts nicht gesehen hätte. Die empirischen Daten belegen dies bis auf den heutigen Tag nicht. Eine Revolution ist etwas substantielles, langfristiges, strukturelles. In der leichten Beschleunigung der Produktivität ab 1996 (siehe oben Tab. und Grafik 5-2) eine Revolution zu sehen, entstammt wohl eher den Kommunikations-Labs der Federal Reserve Bank. Natürlich existieren weitere wichtige Einflussfaktoren für die Arbeitslosigkeit. Z. B. der Druck auf die Arbeitsmarktflexibilität, wie er in den USA praktiziert wird. Dies ist ein maßgebender Faktor, der allerdings unterhalb der Ebene unserer Web-Seite liegt. Vorsichtshalber wollen wir aber betonen, dass MacroAnalyst die Effizienzthese nicht vertritt, um Hürden gegen die Belebung des Arbeitsmarktes aufzubauen. Die europäische Arbeitslosigkeit ist definitiv zu hoch.
VII: Anmerkungen zur Produktivitätspolitik Unsere Makrokette enthält eine Analyse. Ein Aufriss der Produktivitätspolitik hat deshalb hier keinen Platz. Aber einige wenige Anmerkungen zu den politischen Ausführungen der neuen Produktivitätsstudie für die EU Kommission seien festgehalten. Es handelt sich um eine differenziert unterfütterte Arbeit, aus der sich eine Menge Einzelanregungen für den Produktivitätspolitiker herausholen lassen. Die Passagen zur eigentlichen Produktivitätspolitik jedoch sind nicht die Stärke des Gutachtens. Dafür ist allerdings auch die erwähnte Fragestellung "Can Europe resume the catching-up process?" zu eng. Hier wäre eine Draufsicht aus größerer Höhe erforderlich. Produktivität ist kein Ziel, das eindimensional ins Zentrum der Wirtschaftpolitik gerückt werden kann. Die Begründung dafür liegt in einer wichtigen Differenzierung. Die Produktivität gehört heute zweifellos zu den Schlüsselgrößen für jegliche Art wirtschaftspolitischer Überlegungen. Sie muss jedoch in den engen Zusammenhang mit zwei weiteren Kernzielen gestellt werden, der Innovation und der Beschäftigung. Eine neue Sichtweise dieses Phänomens für den
makroökonomischen Zusammenhang ist erforderlich: Entscheidend für wirtschaftspolitisch konzeptionelle Arbeiten ist jedoch gleicherweise der dynamische Charakter der Produktivität (arbeitsschaffender Effekt). Dem zufolge ist Produktivität der Angebotsmotor wirtschaftlichen Wachstums. "Produktivität ist vor allem und zu allererst eine Geisteshaltung. Es ist eine positive Haltung zum Fortschritt, die gewollte dauernde Verbesserung dessen, was existiert. Es ist die Überzeugung, dazu fähig zu sein, es heute besser als gestern und weniger gut als morgen zu machen. ... Es ist die ständige Anpassung des wirtschaftlichen Lebens an sich ändernde Bedingungen; es ist das dauernde Bemühen, neue Techniken und neue Methoden anzuwenden ...." (Japan Productivity Center). Es handelt sich also um die geballte Anstrengung, mit vorhandener Arbeit mehr (und höherwertigeres) Produktionsvolumen zu erzeugen (KAIZEN). Diese Anstrengung nun trägt einen
arbeitsmarktpolitischen Januskopf: Und gerade ein solcher Produktivitätsüberschuss ist eher das europäische Problem als umgekehrt etwa ein Produktivitätsdefizit. Eine höhere Veranschlagung der Produktivitätsraten in der Zukunft kann nicht ausgeschlossen werden, auch die O'Mahony/van-Bark-Studie lässt diese Annahme zu. Die großen Produktivitätssteigerungen in der Industrie halten nun schon über zwei Jahrzehnte an, sind aber noch keineswegs ausgelaufen. Hinzu kommt jetzt der Bau der digitalen Ökonomie, "die weit effizienter und produktiver ist als heute" (Irving Wladawsky-Berger, IBM). Vor allem wird die Digitalisierung und Vernetzung den gesamten Dienstleistungssektor umbauen, der in der Vergangenheit eher verschont blieb, heute jedoch das größte Gewicht am Arbeitsmarkt hat.
Kernaufgabe der europäischen Produktivitätspolitik kann daher nicht die Maximierung eines Ziels sein (Produktivität), sondern muss die Optimierung mehrerer Ziele sein (Produktivität, Innovation, Beschäftigung). Dieses Optimum gilt es noch zu formulieren.
Aus den in diesem Kapital präsentierten Daten hatten wir oben zusammenfassend festgehalten, dass - über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg gerechnet - eine Produktivitätslücke der USA gegenüber Europa festzustellen ist. Unter Punkt VI. hatten wir als erste Konsequenz daraus die Folgen für den Arbeitsmarkt beider Wirtschaftsräume analysiert. Die zweite, strategisch bedeutsamere Konsequenz der Produktivitätslücke ergibt sich hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit der US-Wirtschaft. Zu vermuten ist, dass eine Ökonomie mit einem langfristigen Produktivitätsproblem Mängel in der Wettbewerbsfähigkeit aufweist. Dies untersuchen wir im >Kettenglied 6: Die internationale Wettbewerbsfähigkeit |